Veröffentlicht am 08.11.2021
Für die voll vernetzte Medizintechnik sind neue Formen der Zusammenarbeit notwendig. Der Beitrag zeigt am Beispiel eines Konnektors zur Telematik-Infrastruktur, wie Medizintechnik 4.0 gelingen kann.
Die Digitalisierung ist auch in der Medizintechnik in vollem Gange und doch verläuft die Revolution, gemessen an den Erfolgen in der Industrie (Internet of Things, IoT), in einem gemäßigteren Tempo. Das Umfeld der Medizintechnik ist deutlich anspruchsvoller, da mehr Anforderungen an das Umfeld rund um lebenserhaltende Systeme gestellt werden. Insbesondere der Umgang mit hochsensiblen Daten stellt die digitale Transformation im Gesundheitswesen vor zusätzliche Herausforderungen.
Auch die bisher üblichen Entwicklungspartnerschaften zwischen den Herstellern (Inverkehrbringer) und einfachen Systemintegratoren stehen durch die benötigte Integration und Berücksichtigung von Sicherheit, Datenschutz, Verschlüsselung und der Analyse von potenziellen Angriffsvektoren für vernetzte Medizintechnik vor neuen Aufgaben. Hier sind völlig neue Formen der Zusammenarbeit gefragt und alle Beteiligten müssen andere Wege beschreiten, denn das benötigte Knowhow lässt sich über eine klassische Kunden-Lieferanten-Partnerschaft zweier beteiligter Unternehmen nicht mehr abbilden.
Sicherheitsspezifische Anforderungen im Fokus
Bei der Entwicklung von voll vernetzter Medizintechnik stehen neben den üblichen Anforderungen an Ausfallsicherheit und Qualität sowie normativer Anforderungen insbesondere sicherheitsspezifische Anforderungen im Fokus; exemplarisch seien hier Encryption- und infrastrukturelle Anbindungen sowie standardisierte standortunabhängige Netzwerk- und Service-Zugänge für entsprechend hard- und softwareseitig gerüstete Medizintechnik genannt. Einer der wichtigsten und zugleich grundlegendsten Schritte ist dabei die Anbindung von Arztpraxen an die Telematik-Infrastruktur (TI) in Deutschland. Der Weg zum sicheren und standardisierten Umgang mit der digitalen Patientenakte bis Ende 2020 zeigt schon vor der Schwelle in das eigentliche Behandlungsumfeld, mit welchen Security- und Entwicklungsspezialisten die Medizintechnik konfrontiert wird.
Der Konnektor des Security-Spezialisten Secunet, welcher mittlerweile über 45.000 Arztpraxen den Zugang zur TI über den VPN-Zugangsdienst der Arvato Systems ermöglicht, ist eine der jüngsten Erfolgsgeschichten der Med-Tech-Digitalisierung. Im Zuge der Entwicklung des sogenannten Secunet-Konnektors hatten die Entwickler bei S.I.E unter Federführung der Secunet und ihrem Partnernetzwerk eine seltene Chance, die oben erwähnten neuen Formen der Zusammenarbeit in der Medizinbranche zwischen Inverkehrbringern, Entwicklern und Partnern bei der effizienten Entstehung von hochkomplexen, sicherheitsrelevanten Systemen wie des Konnektors mitzuerleben und nachzuvollziehen.
Digitale Medizintechnik erfordert Umdenken
„Die Entstehungsgeschichte unseres Konnektors zur Anbindung an die Telematik-Infrastruktur ist ein wunderbares Beispiel für die Veränderungen, die auch in der Medizintechnik-Branche selbst vonnöten ist. Gemeinsam mit unserem Entwicklungspartner der S.I.E wurden im Rahmen der Konzeptionierung und Realisierung dieser Lösung völlig neue Wege beschritten,“ meint dazu Markus Linnemann, Divisionsleiter Kritische Infrastrukturen Secunet Security Networks. Und tatsächlich, bei einem Blick auf das gesamte beteiligte Unternehmensnetzwerk bei der Realisierung dieses Projekts wird sehr schnell deutlich, dass klassische hierarchisch organisierte Entwicklungsabläufe in einem klassischen Auftraggeber-Kunden-Verhältnis zwischen den verschiedenen Organisationen dem Ziel einer zielgerichteten und effizienten Entwicklung im Wege gestanden hätten.
In der Entstehungsphase des Konnektors agierte Secunet Security Networks selbst als Security-Spezialist mit dem entsprechenden Marktzugang und S.I.E als Systemintegrator und Experte für die Entwicklung der Hardware. Arvato Systems hingegen überblickte das Gegenstück des Konnektors, den VPN-Zugangsdienst und zusammen mit Secunet und seinem Partner eHealth Experts realisierte er den Service „Mein Zugangsdienst“. Zusätzlich beteiligt sind in diesem sicherheitstechnisch sensiblen Fall selbstverständlich noch das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) sowie die gematik als Aufsichtsgremien für die Sicherheit und Funktionalität des Konnektors.
Josef Krojer, General Manager der S.I.E meint dazu: „An dieser Stelle ist das Netzwerk jedoch bei weitem nicht komplett. Selbstverständlich haben auch wir entsprechende Partner für Plattformtechniken oder Industriedesign an Bord. In einem klassischen Entwicklungsverhältnis der Systemintegration der Vergangenheit hätten diese Partner jedoch keinerlei Anbindung an den Inverkehrbringer, geschweige denn direktes Endkundenfeedback mit der entsprechenden Auswirkung auf Zeitpläne und Kosten.“ Kurzum – wie auch aus der Organisationsmatrix (siehe Bild) dieses Projektes zu entnehmen, entsteht durch die Anforderungen einer digitalen Medizintechnik bereits in der Entwicklung ein komplexes Netzwerk, welches neue Herangehensweisen erfordert.
Gemeinsame digitale Entwicklungs- und Transferplattformen
Markus Linnemann von Secunet Security Networks erklärt: „Genau an dieser Stelle haben wir gemeinsam mit der S.I.E erkannt, dass wir eine intensivere Form des Know-how-Transfers und der Kollaboration benötigen. Klassische Lastenheftentwicklung ohne ein gemeinsames Verständnis des Gesamtprozesses und ohne ein gemeinsames Ziel in der Lösungsfindung verlangsamt die Abläufe und macht einen Erfolg im Rahmen der gegebenen Zeiträume beinahe unmöglich.“ In der Folge gewährten sich die beteiligten Unternehmen auf völlig neue Art Einblick und Zugang zu Daten und Partnern.
In Expert-Calls stimmten sich die beteiligten Unternehmen im Rahmen ihrer jeweiligen Entwicklungs-Domänen über die gesamte Service-Supply-Chain ab. Spezialisten aus allen Bereichen dieser Servicekette untersuchten in gemeinsamen Gesprächen gefundene Unwägbarkeiten, vereinbarten kurzfristig Ziele im Rahmen agiler Entwicklungssprints und transferierten benötigtes Know-how. Als Basis dienten zusätzlich gemeinsame digitale Entwicklungs- und Transferplattformen. „Diese Herangehensweise klingt auf den ersten Blick absolut einfach und logisch, ist jedoch vollkommen neu.
Entwicklungsabläufe, Partnernetzwerke und Kalkulationen
Sich gegenseitig derart tiefe Einblicke in Entwicklungsabläufe, Partnernetzwerke und auch Kalkulationen zu gewähren, um gemeinsam eine Lösung zu erschaffen, benötigt Mut und eine neue Art des Vertrauens. Die klassische Angst Supply-Chains offenzulegen, musste dem gemeinsamen Ziel des rechtzeitigen Markteintritts und der Klarheit, dass nur in einem starken Verbund mit freien Kommunikationswegen eine Zielerreichung möglich war, weichen. Diese Herausforderung wurde von allen beteiligten Unternehmen hervorragend angenommen und umgesetzt.“ meint dazu Josef Krojer.
Die Basis war geschaffen. Ein Unternehmensnetzwerk mit offenen und modernen, teil-digitalisierten Kommunikationskanälen, ein vollständiges Know-how-Set und eine gemeinsame Ziel- bzw. Lösungsvorstellung, wie die Anbindung an die Telematik-Infrastruktur auszusehen hat. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit gewährten sich die Unternehmen nicht nur deutlich intensiven Zugang zu gegenseitigen Ressourcen, auch die Arbeit im Rahmen der einzelnen Domänen wurde aktiv gemeinsam gestaltet.
Weniger Loops bei der Hardwareentwicklung
So wurde als Beispiel für die Fertigung des Konnektors bei der S.I.E ein sicherer Bereich für die Fertigung realisiert. Markus Linnemann von Secunet Security Networks dazu: „Wir verfügten unternehmenshistorisch bedingt bereits über sehr tiefes Wissen bei der Zertifizierung von hochsicheren Entwicklungs- und Lieferprozessen. Das Wissen durch die neu geschaffenen Kommunikationsstrukturen einfach und effektiv an unsere Partner weitergeben zu können, war ein wichtiger Erfolgsfaktor.“ Durch diesen Schritt konnte die Common Criteria Zertifizierung der S.I.E. durch das BSI deutlich schneller und problemfreier auf Anhieb realisiert werden.
Zusätzlich zahlte sich die Matrix-Kommunikation in Form der Experten-Calls durch eine deutlich geringere Anzahl von Loops bei der Hardwareentwicklung aus, was gleichzeitig auch Ressourcen einsparte und dazu führte, das Produkt schneller auf den Markt zu bringen.
Über 45.000 Konnektoren verkauft
Zu einem wirklichen Erfolg wird ein Produkt oder ein Service jedoch immer erst durch das tatsächliche Verhalten des Marktes. Nach Markteintritt wurden bis zum heutigen Tag bereits über 45.000 Konnektoren verkauft und entsprechend viele Praxen an die Telematik-Infrastruktur angebunden. Tests und Umfragen bestätigen den Erfolg bei der Entwicklung und machen mit Blick auf die zukünftige Entwicklung der Medizintechnik-Branche selbst Hoffnung. Bereits zum jetzigen Zeitpunkt planen die Unternehmen den Erfolg des Konnektors durch die Entwicklung einer Version für die Krankenhaus-Infrastruktur auszubauen.
„Die Anbindung von Krankenhäusern und weiteren an der medizinischen Versorgung beteiligten Berufsgruppen und Institutionen über eine standardisierte Schnittstellentechnik, basierend auf den bereits entwickelten Geräten, ist in der Folge ein logischer nächster Schritt“, meint Josef Krojer dazu. „Gemeinsam mit der Secunet und dem gesamten Entwicklungsnetzwerk haben wir in den letzten Jahren eine Basis geschaffen, um von einer abstrakten Idee zur Digitalisierung in der regulatorisch anspruchsvollen Medizintechnikbranche effizient zu einer belastbaren Roadmap der Umsetzung zu gelangen.“
Von Security über Produktion bis zur Logistik
Das Beispiel des Secunet-Konnektors und die Herangehensweise des beteiligten Unternehmensnetzwerks zeigt den Weg für Entwicklungsprojekte in der Medizintechnikbranche. Vor allem aber eröffnet es Einblicke und Vorahnungen, wie die Digitalisierung in hochsensiblen Umfeld und Branchen tatsächlich voranschreiten. Neue kollaborative Entwicklungsprozesse, offenere partnerschaftliche Kommunikationswege und ein gemeinsames Zielverständnis ganzer Spezialisten-Netzwerke – von der Security über die Produktion bis hin zur Logistik – sind von Anfang an notwendig, um das große gemeinsame Ziel für die Digitalisierung zu erreichen und voranzutreiben.
Die Transformation selbst findet entsprechend nicht nur systemisch und technisch statt, sondern vor allem anderen auch unternehmenskulturell. Diese Veränderungen und Weichenstellungen, die –wie am Beispiel des Konnektors und der Telematik-Infrastruktur zu erkennen – bereits in vollem Gange sind, öffnen neue Wege und Möglichkeiten – auf dem Weg zur Medizintechnik 4.0.
ELEKTRONIKPRAXIS 23/2019
Zum Absenden des Formulars muss Google reCAPTCHA geladen werden.
Google reCAPTCHA Datenschutzerklärung
Zum Absenden des Formulars muss Google reCAPTCHA geladen werden.
Google reCAPTCHA Datenschutzerklärung
Zum Absenden des Formulars muss Google reCAPTCHA geladen werden.
Google reCAPTCHA Datenschutzerklärung
Zum Absenden des Formulars muss Google reCAPTCHA geladen werden.
Google reCAPTCHA Datenschutzerklärung